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Weihnachtsgeschichte Prinz Orange

Weihnachtsgeschichte Prinz Orange

Prinz Orange

Da war einmal ein kleines Prinzlein, das war etwa gerade mal ein paar Zentimeter groß. Da es in einer Orange lebte, hieß das Prinzlein sinnigerweise Prinz Orange. Die Aufgabe seines fruchtigen Daseins bestand darin, die schönsten Orangenkerne in die Erde zu stecken. Mit seiner Pflege und seinem liebevollen Zuspruch entstand fast aus jedem Kern, den er gesät hatte, ein neuer, blühender Orangenbaum.

Einmal, es war zur Adventszeit, passierte dem Prinzlein etwas ganz besonderes: Seine Orange war bereits vor einiger Zeit vom Baum geschüttelt und aufgelesen worden. Und mit einem mal kam Bewegung in sein Orangenhaus und ein Daumen drang direkt neben ihm in das köstliche Fruchtfleisch hinein. „Ihhh, in der Orange ist ein Wurm! Ein Wurm mit Krone!! Mamaaaaaaa…!“ Scheibenkleister, jetzt war entdeckt worden! Prinz Orange sprang mit seinem Kern nach unten und brachte sich unter dem Sofa in Sicherheit.

Hier lag ein rotes, altes Spielzeugauto, in welchem das Prinzlein mit seinem Orangenkern Platz nahm. Das war ein gutes Versteck! Mit dem Auto konnte er sogar das adventszeitliche Geschehen beobachten: In der Küche wurden Plätzchen gebacken, im Wohnzimmer wurden die Kerzen des Adventskranzes angezündet und im Kinderzimmer wurden nach und nach die Türchen des Adventskalenders geöffnet.

Eines morgens hörte er die Mutter des Orangenschälers sagen: „In zwei Tagen schon ist Heilig Abend. Ich muß heute das Haus gründlich saubermachen, Sebi. Es soll alles blitzblank sein, wenn das Christkind kommt“, und schon bald herrschte in dem Haus eine richtige geschäftige Atmosphäre. Es wurde gefegt, geschrubbt, gebohnert und gewischt. Prinz Orange hatte sein Auto hinter dem linken Sofafuß geparkt und beobachtete das Schauspiel. Plötzlich aber – schrubb pfrubb pfrobb -wurde ein großer Besen unter das Sofa geschoben. Noch bevor Prinz Orange den Motor anlassen konnte, ergriff der Besen sein Spielzeugauto und schleuderte es nach vorne. „Huuuiiii! Mein Feuerwehrauto!!!“ rief Sebastian freudig erregt. „Booooooahhh.. schau mal, Mama, da sitzt ja der Wurm mit der Krone drin“, zwei riesige Kinderaugen blickten den kleinen Prinz erstaunt an. Nun nahm auch die Frau das Spielzeugauto zu Gesicht. „Das ist doch kein Wurm, Sebi.“ sagte sie. „Das ist ein kleines Prinzlein.“

So lernte Prinz Orange Sebastian und seine Eltern kennen. Er erzählte ihnen viel von sich und seinen Orangenbäumen. Er zeigte ihnen, wie man aus getrockneten Orangenschalen Weihnachtsschmuck herstellt und wie gut eine mit Nelken gespickte Apfelsine riecht. Und er servierte ihnen – aus Puppengeschirr versteht sich – einen Punsch aus ausgepreßten Orangen, mit dem sie nach einem ausgedehnten Schneespaziergang schnell wieder warm wurden.

Die Stunden bis Weihnachten vergingen wie im Flug und schon bald war das Prinzlein mit seiner Gastfamilie um den Christbaum versammelt. Sebastians Mutter überreichte dem Prinzlein eine verpackte Streichholzschachtel, in dem er einen kleinen grünen Schal und grüne Söckchen fand. Sogar in die Christmette durfte er mitkommen. Den neuen Schal um den Hals gebunden setzte er sich in Sebastians Manteltasche und hörte genau zu, was der Pfarrer zu sagen hatte. Am Ende der Mette wurde es in der Kirche ganz dunkel, und das Kerzenlicht und die schönen Weihnachtslieder trieben dem Prinz Orange die Tränen in die Augen. Er hätte niemals vermutet, daß es noch rührseligere Momente als die Orangenblüte gab. Stille Nacht, heilige Nacht – oh wie wahr der Liedertext doch war! Prinz Orange wußte, daß er diesen seligen Moment nie, aber auch gar niemals vergessen würde.

Nach den Weihnachtstagen kehrte wieder Alltag ins Haus der Familie ein. Der Vater mußte wieder arbeiten, die Mutter wusch die großen Plätzchendosen aus und der Christbaum ließ jede Tag mehr Nadeln herab. Draußen lag aber immer noch eine dicke Schneedecke. Prinz Orange war traurig – wie sollte denn jetzt ein Orangenbaum wachsen, wenn sich sein Kern immer noch hier und nicht im Boden, unter der Schneedecke, befand? Er parkte das Feuerwehrauto neben der Krippe und kletterte über den Krippenzaun. Die Figuren darin waren nicht viel größer als er. Prinz Orange sah sich das Christkind an, wie es dort regungslos im Heu lag und mußte an die schönen Lieder und die vielen Lichter in der Mette denken. Eine dicke Träne lief ihm zuerst übers Gesicht und fiel dann herab auf das kleine Christkind. Hatte er sich getäuscht, oder hatte es ihn soeben angelächelt? Er blickte das kleine Wesen an, das da immer noch starr die Arme ausgestreckt hatte. Eine weitere Träne verabschiedete sich aus dem Auge des Prinzen und tropfte erneut auf das kleine Kind im Stroh. Und dann kam noch eine Träne. Und dann noch eine. „Sei nicht traurig, Prinz Orange,“ sprach das Christkind, das durch die  Tränen von Prinz Orange lebendig geworden war. „Du kannst Deinen Orangenkern hier, neben meine Krippe in den Boden stecken. Wenn der Steckling aus dem Moos herausragt, ist der Winter sicherlich vorüber. Dann kannst du das Bäumchen ausgraben und nach draußen setzen.“

Genau so machte er es. Und als ein grüner, kräftiger Steckling durchs Moos ragte, waren Schnee und Winter tatsächlich verschwunden. Sebastian half dem Prinz Orange, das Bäumchen in den Garten zu pflanzen. Dort wuchs er innerhalb kürzester Zeit zu einem kräftigen, wunderbaren Orangenbaum heran. Als die ersten Blüten aufgingen, wußte Prinz Orange, daß die Zeit gekommen war, sich von seinen Freunden zu verabschieden. Allesamt hatten sie Tränen in den Augen. „Vielleicht kommst du nächstes Jahr wieder zu uns.“ sagte der Sebastian. „Wer weiß? Vielleicht….“, antworte Prinz Orange und die Mutter meinte: „Wir werden dich vermissen, Prinz Orange. Und bei jeder Orange, die wir essen, werden wir zukünftig an dich denken.“ Sie gaben dem Prinzlein zum Abschied den kleinen Finger und schon bald war es wieder auf seinen Orangenbaum geklettert.

Als die Blütezeit vorbei war, wußte die Familie, daß Prinz Orange nun sein Dasein wieder in einer der vielen Orangen fristete. Wenn Sebastian von der Schule nach Hause kam, ging er zuerst zu dem Orangenbaum in den Garten und fragte sich, in welcher wohl Prinz Orange nun lebte. Er nahm sich vor, in jeder Frucht nach ihm zu suchen. Es waren aber so viele Orangen, die da heranwuchsen und heranreiften, daß die Familie gar nicht imstande war, sie alle zu verzehren. So packte die Mutter in der Vorweihnachtszeit die Orangen in kleine Holzkisten und verschenkte sie an die Armen und Einsamen der Stadt. In jede Kiste steckte sie außerdem eine Karte, auf der geschrieben stand, daß die Orangen von „Prinz Oranges Orangenbaum mit dem christkindlichen Zauber“ stammten. Auf der Karte standen außerdem die besten Wünsche zur Weihnachtszeit, und der Wunsch, daß etwas des christkindlichen Zaubers auf den Beschenkten übergehen möge. Und ein bißchen war es auch so:  Noch nie waren die Menschen der Stadt in der Vorweihnachtszeit so ausgeglichen und glückselig gewesen. Prinz Orange aber wurde in der Stadt zu keinem Weihnachtsfest mehr gesehen. Gerne jedoch erinnerte sich die Familie an ihren kleinen Freund. Und auch als Sebastian gar kein Junge, sondern ein richtig erwachsener Mann geworden war, fragte er sich Jahr für Jahr, ob Prinz Orange vielleicht einer anderen Familie in einer anderen Stadt ebenfalls zu einer so ganz und gar besonderen Weihnachtszeit verhelfen würde.

Autorin: Petra Palumbo

 

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